Interview // Machtkritische Bildungsarbeit - Machtverhältnisse benennen, kritische Reflexion anstoßen, eigene Position hinterfragen

Evelyn Linde hat das F3_kollektiv mit dem Motto „bilden, suchen, verändern“ im Jahr 2019 gemeinsam mit acht anderen Menschen gegründet. Das Kollektiv bietet machtkritische und emanzipatorische Bildungsarbeit zu innergesellschaftlichen und globalen Machtverhältnissen an. Evelyns Arbeitsschwerpunkte sind das Projekt #digital_global und die Öffentlichkeitsarbeit.

Was ist machtkritische Bildungsarbeit?

Wir gehen von der Annahme aus, dass Macht relational ist. Die historisch gewachsenen Verhältnisse verändern sich, Machtverhältnisse prägen unsere Beziehungen und unsere Welt auf unterschiedlichsten Ebenen - sowohl strukturell, symbolisch, institutionell, auf individueller Ebene und auch in Lernräumen.

Machtkritik bedeutet für uns, den Fokus auf die Machtverhältnisse und daraus resultierenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu legen und sie zu benennen. Sexismus, Kapitalismus, koloniale Kontinuitäten und Rassismus haben eigenständige Wirkungsweisen und sind gleichzeitig miteinander verwoben. Wir wollen herausfinden, wo in diesen Machtverhältnissen Raum für Bewegung und Veränderung ist.

Unsere machtkritische Bildungsarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass wir Machtverhältnisse benennen, eine kritische Reflexion darüber anstoßen und auch die eigene Position darin thematisieren, also die Frage stellen, inwiefern die Teilnehmenden selbst in diesem System privilegiert oder de-priveligiert sind. Wir wollen mit machtkritischer Bildung einen sensiblen Umgang mit Macht anregen, wir fragen uns: wo können Menschen Macht abgeben, wo sich welche erkämpfen? Wichtig ist für uns auch mit welcher Haltung Multiplikatorinnen in den Bildungskontext gehen und wie die Beziehung zwischen Teamenden und Teilnehmerinnen gestaltet wird.

Was ist euer Bezug zum Thema Digitalität & Zivilgesellschaft?

Unsere Beobachtung war, dass immer mehr Menschen, auch im NGO-Kontext, über die Digitalisierung gesprochen und sich die Frage gestellt haben, ob Digitalisierung eine Chance oder eine Gefahr ist. Wir finden es wichtiger auf die Prozesse zu gucken, denn wie die gestaltet werden, ist die spannendere Antwort. Unsere Antwort darauf ist, dass die Digitalisierung ein gesellschaftlicher Prozess ist, der aus einer globalen Perspektive verstanden werden muss und viele verschiedene Facetten von Rohstoffen über digitale Technologien bis hin zu Geschlechterungerechtigkeiten in sozialen Medien umfasst. Wir bieten ein Bildungsangebot an, das Fragen rund um die Digitalisierung jenseits vom rein technischen Verständnis aufgreift. Unsere Bildungsangebote finden sowohl in Präsenz als auch in digitalen Räumen statt - dieser Aspekte hat durch die Pandemie besondere Bedeutung gewonnen.

Du hast erklärt, dass die Digitalisierung ein Prozess mit verschiedenen Facetten ist. Was ist euer Zwischenfazit in Bezug auf Digitalisierung und Zivilgesellschaft?

Mit Blick auf Zivilgesellschaft sehen wir einerseits, dass digitale Technologien Vernetzung ermöglichen und beispielsweise durch #metoo realpolitische Veränderungen passiert. Andererseits ermöglichen digitale Technologien auch Überwachung und Verfolgung von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Besonders spannend ist es daher zu beobachten, wie die Zivilgesellschaft Alternativen zu den Angeboten großer Tech-Konzernen entwickelt und beginnt alternative digitale Infrastrukturen aufzubauen, um unabhängiger zu werden.

Dein Arbeitsschwerpunkt ist das Projekt #digital_global. Was verbirgt sich dahinter?

Im Rahmen des Projekts #digital_global haben wir machtkritische Bildungsmaterialien zum Prozess der Digitalisierung entwickelt. Inzwischen gibt es fünf thematische Module mit 15 Übungen, die als Open Educational Ressources frei zugänglich sind und von Multiplikator*innen eingesetzt werden können. Die Fragestellungen sind vielfältig: Was ist Digitalisierung aus einer globalen Perspektive? Wie funktioniert das Internet? Woher kommt der Strom dafür? Welche Initiativen setzen sich mithilfe digitaler Medien für Geschlechtergerechtigkeit ein? Ebenso vielfältig wie die Themen, sind die eingesetzten didaktischen Mittel, die von einer Twitter-Diskussion zur Frage, ob Patente zur Bekämpfung der Pandemie freigegeben werden sollten, bis zur Einladung, selbst ein Medienprodukt zu erstellen, reichen. Die Materialien richten sich an Jugendliche und junge Erwachsene mit verschiedenen Vorkenntnissen.

Seit diesem Jahr erkunden wir mit unserem neuen Kanal, wie wir Instagram als digitalen Lernort nutzen können. Außerdem haben wir neues Bildungsmaterial zum Thema Digitalisierung für gering literalisierte Erwachsene entwickelt, das Anfang 2023 veröffentlicht wird.

Wie gelingt es euch erwachsene Menschen mit geringer Literalität anzusprechen?

Aus einer machtkritischen Perspektive ist die Frage, wer richtet welche Bildungsinhalte eigentlich an wen höchst relevant. Von Anfang an war uns deshalb wichtig, auch Menschen zu erreichen, die sonst wenig Zugang zu machtkritischer Bildungsarbeit haben. In der politischen Bildung, beim Globalen Lernen und in der BNE gibt es bisher kaum Angebote in einfacher Sprache oder für gering literalisierte Erwachsene. Das wollen wir ändern und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Menschen im Grundbildungsbereich als politische Subjekte wahrgenommen werden, die einen Anspruch auf politische Bildung haben.

Die Lernsettings und auch die Zugänge sind besonders wichtig. Um Menschen mit geringere Literalität zu erreichen, nutzen wir vorhandene Netzwerke und arbeiten mit Volkshochschulen und Vereinen, die Grundbildungskurse anbieten, zusammen. Es ist sehr schwer die Zielgruppe zu erreichen, deswegen ist die Anbindung an diese Kurse, die großartige Arbeit leisten, essenziell.

Mit Blick auf die Materialienreicht es nicht aus, das Bildungsmaterial in einfacher Sprache zu formulieren, auch die Inhalte müssen passend und entsprechend methodisch aufbereitet werden. Auch mit der Frage, welche Kenntnisse vorausgesetzt werden können, setzen wir uns intensiv auseinander.

Gab es in der Auseinandersetzung für dich ein besonderes Aha-Erlebnis?

Das Kollektiv kooperiert auch mit Galerien und bietet zum Thema der Ausstellung Workshops in einfacher Sprache für gering literalisierte Erwachsene an. Es ist spannend zu beobachten, wie diese Menschen, die häufig Diskriminierungserfahrung in ihrem Leben machen, den Raum nutzen, um ihre Meinungen zu formulieren und ins Gespräch zu kommen. Da sind viel Wissen und kritische Perspektive vorhanden!

Zum Abschluss möchte ich mit dir noch einen Blick in die Zukunft werfen. Wie muss digitale Infrastruktur aufgebaut sein, damit Entscheidungen gemeinsam getroffen, kollektives Arbeiten möglich und Wissen miteinander geteilt werden kann?

Die Eigentumsverhältnisse sind ein wichtiger Aspekt; es muss mehr öffentliche digitale Infrastruktur in Gemeineigentum geben, die demokratisch verwaltet und kontrolliert werden kann.

Digitale Infrastruktur muss außerdem ökologisch nachhaltig sein. Aus einer degrowth-Perspektive müssen wir uns immer wieder fragen wozu braucht es eigentlich digitale Infrastrukturen, wozu aber auch nicht? Wir müssen den Rohstoffverbrauch und die Wertschöpfungsketten im Blick haben und die digitale Infrastrukturen mit erneuerbaren Energien betreiben.

Alle brauchen gleiche Zugänge zu digitalen Infrastrukturen. Das fängt hier in Deutschland an mit Unterschieden zwischen Stadt und Land, aus globaler Perspektive ist auch der Digitial Divide zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden hervorzuheben. Die individuellen finanziellen Ressourcen entscheiden über den Zugang zu entsprechenden Endgeräten und wer sich Datenvolumen oder W-LAN leisten kann. Große Unterschiede gibt es auch in Bezug auf nötiges Wissen und die Skills, um sich in der digitalen Welt zu bewegen. Eine weitere Ebene ist, wer programmiert und Inhalte setzt. Dass bei Wikipedia eine große Mehrheit der Beiträge von weißen cis-Männern aus dem globalen Norden geschrieben werden, ist nur ein Beispiel für viele Ungleichheiten.

Damit Entscheidungen gemeinsam getroffen, kollektives Arbeiten möglich und Wissen miteinander geteilt werden kann, braucht es neben dem technischen Zugang und digitalen Tools, auch eine machtkritische Haltung und die Reflexion darüber, wie Entscheidungen getroffen werden und Arbeitsstrukturen ausgestaltet werden sollen. Der kollektive Nutzen muss dabei klar sein.

Hier kannst du dich weiter informieren:

  • Die machtkritischen Bildungsmaterialien vom F3-Kollektiv findest du auf der Webseite.

  • Die LEO-Studie gibt einen guten Überblick über die Situation von gering literalisierten Menschen.

  • Die Auseinandersetzung mit Alpha-Levels kann ein hilfreicher Einstieg sein, um sich mit geringer Literalität zu befassen. Einen ersten Überblick bieten die Volkshochschulen hier.

  • Die Landeszentrale für politische Bildung Berlin bietet eine gute Methodensammlung für die politische Grundbildung. Gut geeignet für den Einstieg!

  • Zum Thema Machtkritik beziehen sich die Inputs viel auf eigene Diskussionen, die an Ansätze wie Anti-Bias, Critical Whiteneness, Anti-Rassismus, Intersektionalität uvm., anknüpfen. Wichtig ist es mit der Auseinandersetzung zu beginnen und sich immer wieder mit neuen machtkritischen Impulsen auseinanderzusetzen.

Evelyn wird bei der Werkstatt-Tagung am 08. Dezember dabei sein. Du auch? Alle Infos zur Anmeldung findest du hier:

:pencil2: Welche Erfahrungen hast du bisher mit machtkritischer Bildungsarbeit gemacht? Welche Fragen würdest du Evelyn gerne stellen? Ich freue mich über deine Kommentare! :speech_balloon: